Habe ich genug geliebt?

Am Ende des Lebens, so heißt es, stellt sich der Mensch die wirklich entscheidenden Fragen. Fragen, wie jene nach der Liebe zu sich selbst und zu anderen.

Als die Corona-Krise im März 2020 uns alle verunsicherte, machte der Brief Einsteins an seine Tochter, gelesen von der Schauspielerin Maria Happel, die Runde in den sozialen Medien. Es ist unklar, ob Einstein, der seine Vaterrolle erst spät in seiner vollen Tragweite erkannte, den Brief tatsächlich geschrieben hat. Aber auch wenn der Text nicht von ihm stammt, so ist der Ausnahmewissenschaftler, wie ich meine, doch der perfekte Botschafter für das große Thema unseres Lebens, die Liebe

Einsteins Brief an seine Tochter

Liebe Lieserl ! Als ich die Relativitätstheorie vorschlug, verstanden mich nur sehr wenige Menschen und was ich Dir jetzt schreibe, wird ebenso auf Missverständnisse und Vorurteilen in der Welt stoßen. Ich bitte Dich dennoch, dass Du dies, die ganze Zeit die notwendig ist, beschützt. Jahre, Jahrzehnte, bis die Gesellschaft fortgeschritten genug ist, um das, was ich Dir hier erklären werde, zu akzeptieren. 

Es gibt eine extrem starke Kraft, für die die Wissenschaft bisher noch keine Formel gefunden hat. Es ist eine Kraft, die alle anderen beinhaltet, sie regelt und die sogar hinter jedem Phänomen steckt, das im Universum tätig ist und noch nicht von uns identifiziert wurde. Diese universelle Kraft ist Liebe. 

Wenn die Wissenschaftler nach einer einheitlichen Theorie des Universums suchten, vergaßen sie bisher diese unsichtbare und mächtigste aller Kräfte. Liebe ist Licht, da sie denjenigen erleuchtet, der sie aussendet und empfängt. Liebe ist Schwerkraft, weil sie einige Leute dazu bringt, sich zu anderen hingezogen zu fühlen. Liebe ist Macht, weil sie das Beste, das wir haben, vermehrt und nicht zulässt, dass die Menschheit durch ihren blinden Egoismus ausgelöscht wird. Liebe zeigt und offenbart. Durch die Liebe lebt und stirbt man. Liebe ist Gott und Gott ist die Liebe. Diese Kraft erklärt alles und gibt dem Leben einen Sinn. 

Dies ist die Variable, die wir zu lange ignoriert haben, vielleicht, weil wir vor der Liebe Angst haben. Sie ist schließlich die einzige Macht im Universum, die der Mensch nicht nach seinem Willen steuern kann. Um die Liebe sichtbar zu machen, habe ich eine meiner berühmtesten Gleichungen genutzt. Wenn wir anstelle von E = mc2 die Energie akzeptieren, um die Welt durch Liebe zu heilen, kann man durch die Liebe multipliziert mal Lichtgeschwindigkeit hoch Quadrat zu dem Schluss kommen, dass die Liebe die mächtigste Kraft ist, die es gibt. Denn sie hat keine Grenzen. 

Nach dem Scheitern der Menschheit in der Nutzung und Kontrolle über die anderen Kräfte des Universums, die sich gegen uns gestellt haben, ist es unerlässlich, dass wir uns von einer anderen Art von Energie ernähren. Wenn wir wollen, dass unsere Art überleben soll, wenn wir einen Sinn im Leben finden wollen, wenn wir die Welt und alle fühlenden Wesen, das sie bewohnen, retten wollen, ist die Liebe die einzige und die letzte Antwort. Vielleicht sind wir noch nicht bereit, eine Bombe der Liebe zu bauen, ein Artefakt, das mächtig genug ist, allen Hass, Selbstsucht und Gier, die den Planeten plagen, zu zerstören. Allerdings trägt jeder Einzelne in sich einen kleinen, aber leistungsstarken Generator der Liebe, dessen Energie darauf wartet, befreit zu werden. 

Wenn wir lernen, liebe Lieserl, diese universelle Energie, zu geben und zu empfangen, werden wir herausfinden, dass die Liebe alles überwindet, alles transzendiert und alles kann, denn die Liebe ist die Quintessenz des Lebens. Ich bedauere zutiefst, nicht in der Lage gewesen zu sein, das auszudrücken, was mein Herz enthält: mein ganzes Leben hat es leise für Dich geschlagen. Vielleicht ist es nun zu spät, mich zu entschuldigen, aber da die Zeit relativ ist, muss ich Dir wenigstens jetzt sagen, dass ich Dich liebe und dass ich durch Dich zur letzten Antwort gekommen bin. 

Dein Vater, Albert Einstein 

An solcher Lieb‘ ich meine Lieb‘ entzünde.

Franziskus Xaverius

Es gibt wohl kaum einen anderen Begriff, der so dehnbar, so missverständlich und doch so umfassend besetzt ist, wie die Liebe. Unvergessen, wie sie sich anfühlt: die erste Liebe, die große Liebe, die schmerzliche Liebe des Loslassens, die tiefe Liebe alter Ehepaare, die verschmähte Liebe, die verirrte Liebe, die missbrauchte Liebe…

Das Gold, das wir nicht sehen

Kann man Liebe beschreiben? Gibt es einen gemeinsamen Nenner? Eine Antwort habe ich bei dem renommierten deutschen Neurobiologen Gerald Hüther gefunden: „Alle Kinder, egal, wie sie gezeugt, wo sie geboren wurden, haben die gleich Erfahrung: Sie sind eng mit der Mutter verbunden und dürfen ,wegwachsen‘. Gleichzeitig verbunden und frei sein, da ist er schon, der gemeinsame Nenner.

Durch das Geborenwerden erleben wir alle, wie Liebe funktioniert, was das Ziel ist. Diese Erfahrung setzt sich wie ein kleiner Goldklumpen in unserem Hirn fest, und von da an machen wir uns auf die Suche nach der Wiederholung. Das ist eine spannende Erkenntnis: Wir wissen alle, wie es sich anfühlt.

Im Laufe unseres Lebens wird der Goldklumpen von allerhand Schmutz verunreinigt, wenn wir uns von uns entfernen, wenn wir folgen müssen, wenn wir gefallen müssen, wenn wir von Menschen manipuliert und ausgenutzt werden, wenn wir um Bedeutsamkeit buhlen müssen. Wir sehen ihn nicht mehr, aber er ist immer da.“

Die Vollendung all‘ unserer
Werke ist die Liebe.
Das ist das Ziel
um dessentwillen wir laufen,
dem wir zulaufen
und in dem wir,
wenn wir es erreicht haben,
ruhen werden.

AUGUSTINUS

„Wie oft haben wir von der Liebe gesprochen und damit eigentlich unsere Bedürftigkeit ausgedrückt. Wir oft verwechselten wir  Gefühlsduselei mit Liebe. Wie oft sind wir im Namen der Liebe einem groben, lieblosen langweiligen Kerl nachgerannt und haben zugelassen, dass er uns nicht wie eine Königin, sondern wie eine Bettlerin behandelt?“, regt Andrea Lindau in „Königin und Samurai“ zum Nachdenken an.

Die gute Nachricht: Auch nach vielen Jahren kann ich den Goldklumpen wieder freilegen, wenn ich Menschen finde, die ich um ihrer selbst willen mag und die auch mich so akzeptieren und schätzen, wie ich bin. Dann bin ich aus mir heraus bedeutsam. Dann erlebe ich Verbundenheit, eine Harmonie, wahre Seelenverwandtschaft. Wenn mein Gegenüber mich so lässt, wie und wer ich bin, fühle ich mich frei. In diesem Fall ist der Goldklumpen blankpoliert und unbeschädigt

Liebe dich selbst. Und die Nächsten.

Wir alle wissen, wie schwer es fällt, allen Menschen in dieser Offenheit und Wertschätzung zu begegnen. Auch deshalb, weil das Verhalten anderer oft unsere eigenen Schattenseiten spiegelt, die wir nicht sehen wollen. Das wird’s dann schwer mit der Liebe. In diesen Fälle denke ich an ein Gebet, das mir ein befreundeter Pfarrer überlassen hat: “Lieber Gott, hab’ du sie/Ihn lieb, ich bin grad so beschäftigt“.

Habe ich genug geliebt? Das könnte die zentrale Frage am Ende unseres Lebens sein. Wie angenehm, wenn wir zumindest sagen könnten: Ich habe mich redlich bemüht.

Meiner Erfahrung nach sind die Lehrmeisterinnen und -meister der Liebe omnipräsent, – wenn wir sie wahrnehmen. Für mich sind es meine Familie und Mitmenschen, die mir die Lektionen erteilen, die mich weiterbringen. Lektionen in Mut, Toleranz, Strenge. Es sind die anderen, die mich lehren, meinen Blick zu weiten, mich zurückzunehmen, für mich einzustehen. Durch sie erkenne ich, wenn es Zeit zu schweigen ist und wann ich das Wort ergreifen soll. Offenheit, Freundlichkeit, Zuhören, das Nein-Sagen aus Liebe und immer wieder die Erkenntnis, was mich wann der Liebe zu mir und zu meinem Gegenüber näherbringt. Genau in dieser Reihenfolge.

Vor diesem Hintergrund formuliere ich das größte christliche Gebot um: Liebe dich selbst. Nur so kannst du deine Nächsten lieben. 

Liebe ist der Kern, um den sich alles dreht.
Durch sie kann jedes menschliche Chaos
wieder zum Kosmos, zur Ordnung werden.

– Augustinus

Liebe schafft alles!

Alles Liebe

Sissy Sonnleitner

LINKS UND LITERATUR

Gerald Hüther
– https://www.youtube.com/watch?v=VWQ6DCR89_o

Einstein Brief an Tochter Lieserl Marić, gelesen von Maria Happel
https://www.youtube.com/watch?v=MJr769BACHA

Andrea und Veit Lindau
– Königin und Samurai. Wenn Frau und Mann erwachen.

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