Die gute Macht in dir

„Donna selvatica“ heißt auf italienisch so viel wie wilde Frau. So nannte mich mein Mann immer wieder, solange Humor noch ein geeignetes Instrument war. Eine Erinnerung, die mich unweigerlich zum Thema „Frau und Macht“ führt. Ist das vereinbar? Riskieren machtvolle Frauen nicht, dominant und rechthaberisch zu wirken? Um welche Macht geht es uns wirklich? Und wohin führt die Suche nach der Macht, die uns und anderen guttut?

Jedes Kind weiß, wie es sich anfühlt, von der Macht Erwachsener abhängig zu sein. Denn jedes Kind braucht einerseits einen Menschen, der Entscheidungen trifft, der das Kind leitet und begleitet. Negativ erlebt das Kind die  Macht allerdings dann, wenn sie ohnmächtig macht. Wenn ein Kind Unrecht erkennt und sich nicht helfen kann. Eine Erfahrung, die sich in die Kinderseele einbrennt und ein Leben lang als schmerzende, kränkende Narbe bleibt, – wenn man sie nicht bearbeitet. 

In unserer Familie waren Essstörungen ein großes Thema. Und das Thema begleitet mich offensichtlich ein Leben lang. Wenn ich etwas nicht ansehen, nicht wahrhaben will, dann funktioniert das Muster immer noch: Eine Dosis Zucker und fast jedes Problem ist für einem Moment lang ruhiggestellt. Glücklicherweise gelingt mir immer öfter, das Muster zu durchschauen und mich gegen die Zuckerration zu entscheiden. Stattdessen gehe ich an die frische Luft und tue mir etwas Gutes, indem ich mir beispielsweise einen Blumenstrauß pflücke. Es gelingt mir, weil ich genau hinschaue und manche Dinge neu sehen kann. 

Diese Erkenntnis und meinen neuen Blick auf die Dinge verdanke ich wertvollen Wegbegleiterinnen wie Anita Johnston. Sie ist klinische Psychologin und arbeitet seit Jahrzehnten mit Frauen, die unter unterschiedlichen Essstörungen leiden. Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse beschreibt sie in dem Buch “Die Frau, die im Mondlicht aß: Ess-Störungen überwinden durch die Weisheit uralter Märchen und Mythen”.

Anita Johnston hält die Machtfrage für einen zentralen Kern, der allen Essstörungen zugrunde liegt. Sie ist zum Schluss gekommen, dass die Wurzel des Problems nicht im Gefühl von Machtlosigkeit liegt, sondern vielmehr in der Angst vor der Macht

  • der eigenen Gefühle (Wut)
  • der eigenen Wahrnehmung (wenn frau die Welt anders sieht als ihr Umfeld)
  • der eigenen Intelligenz und Begabung (wenn andere neidisch sind)
  • des eigenen Mutes (wenn frau mit Vollgas Anlauf nimmt und im Dreck landet)
  • der eigenen Sexualität (weil frau von niemandem gelernt hat, die galoppierenden Gäule zu führen)

In diesem Zusammenhang erzählt die Autorin ein Märchen aus Schweden, genauer von einem Zauberer, der in einem prächtigen Schloss inmitten eines wunderbaren Parks lebt. Im Park stehen Statuen von jungen Mädchen, die so echt wirkten, als seien sie lebendig. Vor langer Zeit waren sie das auch. Aber der Zauberer hat sie versteinert.

Elsas Goldsträhne

Immer wenn er ein Mädchen sah, das ihm gefiel, legte er  seinen Zaubermantel an, rieb sich Honig auf die Lippen, damit seine Worte süß klangen, und sprengte Morgentau auf sein Gesicht, damit es sanft und freundlich wirkte. So flog über Wälder und Berge. Wenn er das Mädchen erblickte, breitete er den Mantel aus, und wenn er es schaffte, dass das Mädchen freiwillig draufstieg, packte er es und entführte es auf sein Schloss. Wenn er ihrer überdrüssig wurde, verwandelte er sie zu Stein.

Eines Tages entdeckte er bei seiner Suche Elsa. Es war ihr goldblondes Haar, das ihn in seinen Bann zog. ,Oh, schöne Maid, Deine Füße sind viel zu zart für diesen rauen Waldboden, erlaube mir, dass ich Dir zu Diensten bin. Du darfst auf meinen Mantel treten.“ „ Ach, meine Füße sind sehr robust, Du solltest Deinen schönen Mantel schonen“, antwortete Elsa. 

Da ließ er sich etwas anderes einfallen: Er entdeckt einen Ziegenbock und blies auf seiner Zauberflöte einen Schwarm Bienen herbei, die den Bock wütend machen sollten. Würde Elsa sich ängstigen, würde er ihr seinen Mantel anbieten. 

Elsa rannte vor dem Ziegenbock davon und als der Zauberer ihr den Mantel zum Schutz anbieten wollte, verfing sich der Ziegenbock darin und riss ein Loch in das kostbare Kleidungsstück. 

Als Elsa das sah, tat ihr der Zauberer leid. „Euer schöner Mantel ist zerrissen, weil ihr mir helfen wolltet. Lasst ihn mich für euch flicken“. Sie brach einen Dorn von einem Busch als Nadel und riss sich eine goldene Haarsträhne aus als Faden. Als sie ihm den Mantel übergab, trat sie unabsichtlich darauf. Und mit einem Male zeigten sich die Macht des Zauberers und sein wahres Gesicht. Als er mit ihr davonfliegen wollte, verfing sich die Haarsträhne in einem Ast und als er daran zerrte, entkam Elsa und der Zauberer musste unverrichteter Dinge heimfliegen. 

Er tobte vor Wut und konnte in der folgenden Nacht nicht schlafen, weil sein Zimmer hell erleuchtet war. Da entdeckte er, dass das Licht nicht vom Mond, sondern von der Haarsträhne kam. Nacht für Nacht konnte der Zauberer nun nicht mehr schlafen. Er wickelte die goldene Strähne ein, versuchte die Naht aufzutrennen, das Haar rauszuschneiden, warf den Mantel aus dem Fenster. Aber nichts half. 

So suchte er Elsa auf, versuchte ihr Angst zu machen, bot ihr eine Menge an Schätzen, aber das Mädchen ließ sich nicht einschüchtern, denn sie hatte von ihrer Mutter gelernt, dass seine einzige Macht in dem Zauberumhang steckte.

Schließlich kehrte er in sein Schloss zurück und setzte sich im Park auf eine Bank. „Das widerborstige Ding hat keine Angst vor mir. Was muss ich tun, um ihr meine Macht zu zeigen?“

Er beschloss, eine der Statuen wieder zum Leben zu erwecken, um Elsa zu überzeugen.

In dieser Nacht strahlte nun die Haarsträhne ein bisschen weniger. Als aber in der nächsten Nacht, das Licht wieder so unerträglich hell war, flog er wieder zu Elsa und versuchte mit aller Gewalt sie einzuschüchtern und verlangte, sie solle endlich den blöden Faden aus seinem Mantel nehmen.

„Die Naht ist gut, sie bleibt, wo sie ist,“ beharrte Elsa. Zurück in seinem Schloss musste er feststellen, dass das Licht nur schwächer wurde, wenn er Nacht für Nacht eines der Mädchen aus seinem Park freiließ. 

Als die letzte Statue verschwunden war, behielt Elsas goldene Naht einen schwachen Glanz, der ausreichte, den Zauberer daran zu erinnern, dass sie wieder hell erstrahlen würde, sollte er seine böse Zauberkraft erneut einsetzen.“

Die Macht, die von innen kommt

Anita Johnston nutzt die bildhafte Sprache von Märchen, um Frauen dabei behilflich zu sein, ihr Selbstverständnis aufzubauen und sie auf der Suche nach der Ursache der Störung liebevoll zu begleiten. Dazu gehört es auch, wie sie meint, teilweise absurde Vorstellungen von der Rolle der Frau in der heutigen Welt zu erkennen und sich schrittweise davon zu lösen. Und dabei spielt Macht eine wesentliche Rolle, wie sie in ihrer Analyse des Märchens von Elsa und dem Zauberer schreibt.

„Die Macht des Herrschens gegen die Macht des Einflusses. Letztere versucht weder zu beherrschen, noch zu kontrollieren. Elsa ist sich ihrer inneren Macht bewusst und lässt sich weder durch Schmeicheleien, noch durch Drohungen einschüchtern. Daher erleidet sie auch nicht das Schicksal der anderen Mädchen, die starr und leblos werden. Sie achtet auf ihren Instinkt und ihre Gefühle und drückt beides selbstbewusst und ohne Herabsetzung des Zauberers frei aus. 

Die Macht des Herrschens braucht Geld, Waffen, einen überhöhten Status oder eine aggressive Körpersprache. Die Macht des Einflusses kommt von innen heraus  – das Haar wächst aus ihrem Kopf – und lässt sich nicht auslöschen. Sie schöpft aus einem riesigen Machtreservoir in sich und daher kann sie die persönliche Macht jedes Individuums anerkennen. 

„Die Macht des Einflusses in sich zu entdecken,
ist ein wahrer Schatz,
der Stärke und Selbstbewusstsein
in sich birgt.“

– Sissy Sonnleitner

Glücklicherweise taucht heute mancherorts diese neue Art von Macht in unserem Bewusstsein auf: sie hat keine hierarchische Struktur. Sie beruht auf Gleichheit. Statt der Überzeugung, alles sei knapp und begrenzt, herrscht der Glaube an Überfluss, die Annahmen, dass von allem genug für alle da sei. Das bewirkt Kooperation, statt Wettbewerb. Niemand braucht gewinnen und keiner verliert.

Die Macht des Einflusses in sich zu entdecken ist ein wahrer Schatz, der Stärke und Selbstbewusstsein als Geschenk birgt. Ich lebe meine Werte, muss niemanden überreden, kann die Macht und Stärke meines Gegenübers stehen lassen, ohne dass ich entwertet werde.

Je mehr du dein Gegenüber zu beherrschen suchst
umso reizloser wird es dir erscheinen.

–Chuck Spezzano

In diesem Sinne lade ich dich ein, genau hinzuschauen! Wo fühlst du dich ohnmächtig und wie kannst du Ohnmacht in Macht durch Einfluss verwandeln. Ahnst du, wie sich die Welt verändern kann, wenn viele Frauen an diese Macht herankommen? Ich freue mich drauf!

Der schön stilisierte Salbei von Anna Weninger möge deine Stimme stärken, damit du deiner Macht Ausdruck verleihst.  

Ich wünsche dir eine gute Zeit mit dir!

Sissy

LITERATUR

–Anita Johnston

Die Frau, die im Mondlicht aß: Ess-Störungen überwinden durch die Weisheit uralter Märchen und Mythen

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2 Kommentare

  • Rauter Helga sagt:

    Liebe Frau Sissy Sonnleitner! Danke für die authentischen Beiträge. Sie sind bestärkende Begleiter für mich.
    Liebe Grüße
    Helga Rauter

    • Sissy Sonnleitner sagt:

      Liebe Frau Rauter!

      Schön, dass meine Geschichten berühren und stärken. Das können
      wir brauchen in solchen Zeiten. Ich wünsche Ihnen alles Gute und freu‘ mich, wenn wir in Verbindung bleiben.
      Herzlichst
      Sissy Sonnleitner

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